Maarten’t Hart: “Der Schneeflockenbaum”
Schrulliger und gefühliger Erinnerungsroman
Der Roman handelt von einer ungewöhnlichen Freundschaft zweier Außenseiter. Er spielt in den Niederlanden der 50iger Jahre in einem Umfeld, das von wirtschaftlicher Not und von calvinistischer und provinzieller Enge geprägt war. Zu einer Zeit, als sich die Uhren noch langsamer drehten. Es geht um Liebe, verpasste Lebenspartnerschaften und klassische Musik.
Mit leichter Hand und dennoch tiefgründig schreibt der Autor über harte Zeiten. Man spürt einfach die Lust am Erzählen. Durch eine exzessive Beschreibung von Verdauungsstörungen (inklusive einer drastisch-plastischen Schilderung der manuellen Beseitigung einer grausligen Sache namens "Aftermaden") muss man allerdings erst einmal durch, ehe die Geschichte altmodisch-behäbig Fahrt aufnimmt.
Eindringlich sind die Szenen, in denen der Ich-Erzähler mit klassischer Musik in Berührung kommt. Alles beginnt mit dem Kauf eines Grammophons.
“Jeder rechtschaffene Mensch begreift, dass der Kauf eines Grammophons ein riesiges Loch in den Familienetat reißt. Folglich fehlen danach die Mittel, eine oder gar mehrere Schallplatten zu kaufen. Die Kerkmeesters waren nun also stolze Besitzer eines Grammophons und konnten es sich aus diesem Grund nicht leisten, Schallplatten zu kaufen. Aber das war keine Katastrophe, denn es zeigte sich, dass es bereits ein Riesenvergnügen war, den sich gleichmäßig drehenden leeren Plattenteller zu beobachten, den man zudem noch auf drei Geschwindigkeiten einstellen konnte.”
Durch ein ungewöhnliches Tauschgeschäft kommt ein halbes Jahr später doch eine Schallplatte hinzu, von der der Protagonist schier nicht mehr genug bekommen kann - Händel, wie sich Jahre später herausstellte.
“Nachdem wir die Platte äußerst behutsam aus der Hülle hatten gleiten lassen, betrachteten wir die Scheibe zunächst von allen Seiten. Es stand nichts anderes darauf als ‘Seite A’ und ‘Seite B’. Wir stellten den Plattenspieler auf 45 Umdrehungen pro Minute und legten die Platte ehrfurchtsvoll auf den Drehteller. Wir schalteten den Plattenspieler ein und ließen ihn zunächst warmlaufen, und setzten dann unendlich vorsichtig die Nadel in die Rille. Zunächst hörten wir nur das starke Rauschen der Nadel in der noch leeren Rille. Dann erklangen, erst noch zögernd und zurückhaltend, doch allmählich immer klarer und deutlicher, einige Streichinstrumente in dem Rauschen und es schien fast, als pickten sich die Streicher aus dem riesigen Angebot an Tönen genau die Noten heraus, auf die es ankam.” ... “als sollte mir auf diese Weise eingeprägt werden, dass sich in meiner Seele Kräfte verbargen, von denen ich bis dahin nichts gewußt hatte, und nicht nur Kräfte, sondern auch Schmerzen, die lieblich gelindert wurden von der Musik, die sie gleichsam hervorrief.” ... “Jouris Vater klappte, als er ins Wohnzimmer kam und gerade noch die letzten Töne hörte, langsam die Kinnlade herunter. ‘Lass die Platte nochmal von vorne laufen’ befahl er barsch. Und da kam es wieder. Ich konnte bereits mitsummen, leise mitpfeifen, wodurch die Musik noch ergreifender wurde - so sehr ich mich auch dafür schämte, dass mein leises Mitpfeifen in Mitflennen ausartete. ‘Verdammt schönes Stück’ sagte Jouris Vater mit belegter Stimme. ”
Volker Martens liest ebenso amüsant, einfühlsam und lebendig, wie der Roman geschrieben ist. Ein bärenstarker Vortrag.